Sommer in Himmelsreich - Teil 1

Das alte Schloss

Sommer in Himmelsreich Teil 1 - Das alte Schloss
Hardcover A5, 2015
152 Seiten
12,50 €
zu bestellen unter: info@zwiebelfischverlag.de
oder im Buchhandel unter Angabe der ISBN: 978-3-935448-15-4

Was haben Gespenster in einem englischen Schloss mit dem Überfall mittelalterlicher Raubritter auf eine königliche Kutsche zu tun? Nun, alles dreht sich um einen unermesslichen Schatz, der vor vielen Jahrhunderten verloren gegangen ist …

Pat und Tim ahnen von diesen Zusammenhängen nichts. Sie müssen sich mit einem ganz anderen Problem herumplagen: Sie sollen den Rest der Sommerferien im Dorf bei der Großmutter verbringen, anstatt in den Trubel der Großstadt einzutauchen.
Doch vom Augenblick ihrer Ankunft geraten sie in einen Streit hinein, dessen Mittelpunkt ausgerechnet die Reste des ehemaligen Schlosses bilden, in dem ihre Großmutter wohnt. Es gibt viele Leute, die das Schloss gern für sich besitzen möchten, um nach dem gewaltigen Schatz zu suchen, der auf dem Gelände vergraben sein soll.
Außerdem werden Pat und Tim immer wieder neu überrascht: In der alten, verlassenen Bahn-hofsruine des Ortes entdecken sie ein Gerippe; aus dem vorsintflutlichen Röhrenradio, das im Turmzimmer des Schlosses steht, ertönen rätselhafte Gespräche; und wer ist der Glatzkopf, der ab und zu auftaucht, nur, um auf unerklärliche Weise wieder zu verschwinden?
Als Pat schließlich einen unterirdischen Gang entdeckt, dessen Einstieg im Keller des Schlosses seinen Anfang nimmt, beginnen die Ereignisse, sich zu überschlagen …

Für alle Leser ab 10 Jahre

Das ist der Ausgangspunkt der Geschichte:

 

 

 

 

Leseprobe

1
Pat und Tim
Ankunft

Noch einmal heulte das Signalhorn des davonbrausenden Zuges auf. Mit seinem verklingenden Ton entschwanden die Rücklichter des letzten Wagens hinter der Biegung. Danach flimmerte nur noch die Luft in der Hitze. Stille ringsum, die lediglich ab und an von einem Vogelschrei unterbrochen wurde.
»Jetzt sitzen wir fest.« Tim fand als Erster die Sprache wieder. »Klappe auf, Deckel zu – für immer Frieden und Ruh‘. Oh, Mann!«
Pat nickte. »Ja, noch drei Wochen, bis die Ferien vorbei sind. Hier ist wahrscheinlich nicht mal eine BMX-Strecke zu finden, auf der ich trainieren kann.«
»Genauso wenig wie Fernseher oder Radios. Computerspiele kann man gleich ganz vergessen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Alter, außer uns ist niemand an der Station hier ausgestiegen. Wir sind die einzigen Menschen, völlig allein auf der Welt. Alle anderen sind ausgeflogen und haben sich auf fremden Planeten angesiedelt.«
»Quatsch.« Pat löste sich von dem Punkt, an dem der Zug endgültig verschwunden war und ließ seinen Blick umherwandern. Ringsum erstreckten sich die goldenen Getreidefelder, in deren Weite sich das Gleis verlor. Erst hinter ihnen, etwa hundert Meter vom Bahnsteig entfernt, begann ein Wald. Der einzige Weg weit und breit, zwei parallel nebeneinanderliegende, ausgetretene Sandspuren, schlängelte sich durch die Kornfelder. Er hielt auf den Waldrand zu und verschwand irgendwo zwischen den Bäumen. Inmitten der Felder waren auch Windräder zu sehen, eine Gruppe von zehn, elf oder zwölf und weit entfernt eine Ansammlung von vier Stück.
Hinter Pat und Tim befand sich auch ein zweistöckiges Gebäude, von dem sie nur durch ein stillgelegtes, mit hochstehendem Gras überwuchertes Gleis getrennt waren.

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Zu dem Haus gehörten mehrere Schuppen und Nebengelasse. Allerdings schien der Komplex schon vor langer Zeit verlassen worden zu sein. Die Schuppen standen windschief und würden wohl bald zusammenkrachen. Von den Außenmauern des Hauptgebäudes war der Putz großflächig abgeblättert und die Fensteröffnungen hatte jemand mit verwitterten Brettern zugenagelt. Der im Laufe der Zeit vergilbte Schriftzug an der Fassade ließ erahnen, dass es sich um das ehemalige Bahnhofsgebäude handelte. Außerdem hatte der abgefallene Putz ein paar Buchstaben mit sich gerissen. Mehr Lesen

                   Station immel reich

An der Eingangstür baumelte ein Schild mit einer ebenfalls schon verblassten Aufschrift:

Außer Betrieb

Betreten verboten – Lebensgefahr!!!
(Eltern haften für ihre Kinder)

Darunter hing etwas, das weder zu dem Schild noch zum Zustand des Gebäudes passen wollte. Es handelte sich um einen Computerausdruck, ein leuchtend weißes Blatt Papier, das in eine Folie eingeschweißt worden war. Darauf stand deutlich lesbar, mit blauer Schrift:

 Wer ist der Besitzer dieser Immobilie?
Bitte melden!!!
Wir möchten Ihnen ein großzügiges Angebot unterbreiten

Büro Hartmann & Schindler.
(Tel. 0176/888 444 123)

»Wer will denn so ein Schrotthaus kaufen?«, wunderte sich Pat. »In einer vollkommen verlassenen Gegend?«
»Vielleicht gibt’s einen Tresor da drinnen.«
»Was für einen Tresor?«
»Mann, ein verschlossener Geldschrank für Münzen. Kann man auch Schmuck einschließen oder Juwelen, Wertpapiere und so’n Zeug.«
»Hey, ich weiß, was ein Tresor ist! Aber da drüben seh‘ ich nur eine Ruine, verstehst du? Eine zugenagelte Bruchbude, die niemand betreten darf, weil man sich sonst in Lebensgefahr begibt.«
»Genau darin liegt doch der Trick, Mick! Betreten verboten, Lebensgefahr – dass ich nicht lache! Jemand will sich nur die Truhen sichern, die im Keller vergraben sind und nach denen die ganze Welt seit langem sucht. Vielleicht ist es auch nur ein vergessener Fahrkartenautomat, randvoll mit Münzen, und die gehören uns, wenn wir das Ding knacken. Du brauchst doch bestimmt ein neues BMX-Rad, hab ich recht?«
»Nicht unbedingt. Meins ist erst ein halbes Jahr alt.«
»Na ja, aber irgendwann ist die Kette hinüber und … und die Tretlager sind ausgeleiert.«
»Das stimmt natürlich.«
»Siehst du! Und ich brauche endlich einen vernünftigen Mixer und die richtigen Boxen. Sonst wird das nie was mit der Karriere als Rapstar. Los, die Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen!«
Begeistert von der eigenen Idee steuerte Tim das alte Bahnhofsgebäude an. Pat fasste nach dem Lenker seines BMX-Rades und schob es mit sich über das stillgelegte Gleis. Obwohl weit und breit niemand zu sehen war, zog er auf der anderen Seite das Fahrradschloss aus dem Rucksack. Als sein Rad endlich an einer Wand lehnte, hatte Tim die Ruine bereits umrundet. »Es gibt nur einen Weg. Sieh mal hoch!«
Pat legte den Kopf in den Nacken.
»Falsche Richtung!«, rief Tim. »Da drüben, das Brett meine ich. Es hängt schief, klaro? Wir müssen es nur zur Seite schieben und schon können wir reingucken.«
»Wie willst du da oben rankommen? Ist immerhin der erste Stock!«
»Wir klettern auf das Schuppendach.«
Tim streifte seinen Rucksack ab, ließ ihn achtlos zu Boden fallen und lief auf den Schuppen zu. Pat beobachtete, wie er versuchte, über den Stamm eines umgestürzten Baumes auf das Dach zu gelangen. Seine Bewegungen sahen dabei alles andere als elegant aus. Sie glichen eher dem Hüpfen eines Frosches, der einen aufgeblasenen Gummiball verschluckt hatte. Kein Wunder, wenn man über fast quadratische Körpermaße verfügte. Trotzdem war es immer wieder erstaunlich, wie beweglich und erfinderisch Tim wurde, wenn ihn etwas interessierte. Er schaffte es, in einem Affenzahn auf das Schuppendach zu klettern. Es nutzte ihm nur nichts, denn trotz der ausgestreckten Arme reichten seine Finger lediglich an die untere Kante des zugenagelten Fensters heran. Er drehte sich um und winkte Pat zu.
»Los«, rief er, »du musst herkommen. Dann kann ich mich auf deine Schultern stellen.«
»Auf meine Schultern? Hey, wie viel wiegst du jetzt überhaupt?«
»Mann, das interessiert überhaupt niemanden!«
»Klar, mich. Ich will nicht zusammenbrechen!«
»Mach mal halblang, Frank! Im Sportunterricht bei Frau Jensen versuchst du immer zu glänzen wie ’ne alte Speckschwarte, und hier hast du plötzlich Angst wegen ein paar winzigen … Milligramm!«
»Du kannst auch da oben stehen bleiben, bis du schwarz wirst.«
»Mann, Alter, los jetzt!«
»Nichts zu machen.«
Tim verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus. »Also gut, du hast gewonnen: Ich wiege schlappe sechzig Kilo.«
Pat glaubte ihm kein Wort. Außerdem kam ihm die Zahl bekannt vor. Tim wiederholte sie wahrscheinlich schon seit Monaten, wenn ihn jemand nach seinem Gewicht fragte. Doch Pat war selbst neugierig auf das, was die Ruine in ihrem Inneren zu bieten hatte. An verborgene Geldschätze glaubte er dabei weniger. Aber vielleicht ließen sich irgendwelche brauchbaren Dinge finden – ein vergessenes Taschenmesser mit Funktionsklingen, Schrauben, die er für sein Rad verwenden konnte, oder gar eine alte Machete. Beim letzten Gedanken spürte er, wie sein Herz vor Begeisterung schneller schlug. Er träumte schon lange davon, eine Waffe zu besitzen wie Jack Sparrow in Fluch der Karibik. Die Machete würde er neben das Filmposter hängen, auf dem das Piratenschiff, die Black Pearl zu sehen war – das wäre wirklich perfekt!
Berauscht von den unverhofften Aussichten setzte sich Pat in Bewegung. Kurze Zeit später stand er neben Tim auf dem Dach. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und verschränkte die Hände vor dem Bauch ineinander. Tim stellte einen Fuß hinein, als würde er eine Trittleiter benutzen, und hievte sich auf Pats Schultern. Die Last war deutlich zu spüren.
Siebzig, dachte Pat, das sind bestimmt siebzig Kilo!
Über ihm knackte es.
»Siehst du«, ertönte ein Jubelschrei, »schon ist das erste Problem gelöst! Das Brett hängt nur noch auf einer Seite.«
Faulige Gerüche stiegen Pat in die Nase, ein Gemisch aus abgestandener Luft, verschimmelten Essensresten und etwas anderem, für das er keine Erklärung fand.
»Und«, fragte er, »was siehst du?«
»Warte mal, meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.«
Danach blieb Tim für eine Weile ruhig. Pat stellte keine weiteren Fragen, weil das Gewicht, das gegen seine Schultern drückte, immer heftiger zu spüren war. Lange würde er das nicht aushalten. Außerdem umschwirrten hier im Schatten die Mücken seine Nase, als wäre sie ein Leckerbissen. Noch konnte er sie wegblasen. Aber irgendwann würden sie auch seine nackten Unterarme und die ungeschützten Waden entdecken. Dann brauchte er seine Hände.
Plötzlich horchte Pat auf. Was waren das für Geräusche? Wo kamen die her? Aus dem Inneren des Hauses?
Da polterte es, als wolle das Gebäude in sich zusammenkrachen. Eine gewaltige Staubwolke stiebte aus der Fensteröffnung. Tim sprang von Pats Schultern auf das Schuppendach, das ebenfalls bedenklich zu schaukeln begann. Doch er achtete nicht darauf, machte stattdessen einen weiteren Satz hinunter auf den Boden, wo er auf allen Vieren landete. Blitzschnell kam er wieder hoch und angelte in vollem Lauf nach seinem Rucksack.
»Weg, weg, weg«, brüllte er, »los, nichts wie weg hier!«
Der panische Tonfall in Tims Stimme drückte Pats Fragen beiseite. Außerdem wusste er, dass seine Zunge in der Aufregung nicht mitspielen würde. Bevor er das erste Wort herausgebracht hätte, wäre Tim längst außer Hörweite. Also stürmte er ebenfalls vom Dach, warf sich seinen Rucksack über die Schulter und griff nach dem BMX-Rad, das noch immer angeschlossen war. Einen Moment lang stockte er, um den Schlüssel aus seiner Tasche zu ziehen.
Da krachte es erneut hinter ihm.
Pat griff erschrocken mit einer Hand nach der Rahmenstange. Mit der anderen packte er den Lenker. Sein Rad halb tragend, halb auf dem Vorderrad schiebend, hastete er hinter Tim her, der bereits den mit Schotter ausgelegten Weg erreicht hatte und auf den Waldrand zuhielt. Wieder war Tim erstaunlich schnell. Pat hatte keine Chance, ihn zu erreichen.
Erst kurz vor den ersten Bäumen stoppte Tim. Der Lauf hatte ihn völlig ausgelaugt. Er stand vornübergebeugt, zog das Basecap mit den verschnörkelten, von ihm selbst entworfenen und aufgesprühten Ini-tialen vom Kopf und wischte sich schwer atmend die verschwitzten Haare aus der Stirn. Pat lief der Schweiß ebenfalls übers Gesicht, als er am Waldrand ankam. Doch er pumpte nicht halb so heftig wie sein Cousin, trotz seiner zusätzlichen Last.
»Was war denn los?«, fragte er und stellte das Rad ab. »Warum bist du Hals über Kopf abgehauen?«
»Da … da drin war ein… eine Leiche!«, japste Tim.
»Ein Toter?«
»Mensch, Alter, Leichen sind immer tot!«
»Dann braucht man auch nicht abhauen.«
»Normalerweise jedenfalls sind sie tot. Die aber war eingehüllt in so eine abgeranzte Kutte, wie sie diese … die Mönche tragen. Kannst du dich noch an den Erwachsenenfilm erinnern, den wir uns heimlich angesehen haben? Da, wo die Mönche wie Zombies rumlaufen?«
»Du meinst Der Name der Rose?«
»Ja genau, so ähnlich kannst du dir das Teil vorstellen. Allerdings bestand es nur noch aus Knochen, Zähnen und Haaren.«
»Du hast also ein … ein Gerippe in einer Mönchskutte gesehen?«
»Genau.«
»Davor hast du Angst?«
»Wenn es nur so dagelegen hätte, wäre es kein Problem gewesen. Aber das Ding – ich schwöre! – das Ding hat seinen Kopf gedreht und mich angesehen.«
»Ein Gerippe hat keine Augen.«
»Ha, du hast keine Ahnung! Die Augenhöhlen haben rot geglüht! Nein, Quatsch … die waren grün!«
»Du spinnst.«
»Ach, und weswegen hat es wohl so gepoltert?«
»Woher soll ich das wissen? Ich stand ja unten.«
»Aber ich kann es dir sagen. Das Ding ist nämlich aufgestanden, hat sich eine Holzlatte geschnappt und kam direkt auf mich zugelaufen.«
»Haha, und es hat mit seinen Knochenfüßen aufgestampft, dass die Wände wackeln!«
»Nein, natürlich nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte Ruhe. Ich war nur vor Schreck wie gelähmt. Wobei ich glaube, dass mich das Ding bis dahin noch gar nicht gesehen hatte. Es war auf der Flucht vor irgendwas, das hinter ihm herkam. Aber es musste mich jeden Moment entdecken und dann hätte es mich auf jeden Fall erwischt, wenn … tja, wenn das Ding auf dem Weg zum Fenster nicht gestolpert wäre. Es ruderte mit den Armen durch die Luft und seine Holzlatte knallte im Fallen so gegen ein Geländer, dass es zusammengekracht ist. Deswegen das Poltern.«
Pat zweifelte nach wie vor an Tims Worten. Doch er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass der gerade eben keinen Witz erzählte. Tim glaubte an das, was er sagte. Nachdenklich sah Pat zum Bahnhofs-gebäude hinüber. Die Staubwolke hatte sich soweit verzogen, dass das freigelegte Fenster zu sehen war. Dahinter jedoch herrschte Dunkelheit. Keine Bewegung.
»Meinst du, das … das Ding … kann da … rauskriechen?«
»Ich will gar nicht dran denken.« Tim schüttelte sich.
»Warum hast du keinen deiner Silvesterknaller gezündet? Da wäre es bestimmt gleich geflüchtet.«
»Die Knaller sind im Rucksack, Alter, und der Rucksack lag unten im Dreck.«
»Wir könnten noch mal zurückgehen und …«
»Spinnst du? Was ist, wenn das Ding sich dadurch erst recht herausge-fordert fühlt? Komm, lass uns lieber von hier verschwinden. Du kennst den Weg, oder?«
»Du nicht?«
»Naja, wir müssen zu Großmutter Sophie und ihrem Bruder Gerhard, so viel hab ich schon verstanden.«
»Aber zu Hause haben sie uns alles erklärt, wenn ich mich recht erinnere.«
»Als ich zu Hause war, hat es mich nicht interessiert.«
»Und auf einmal willst du wissen, wo’s langgeht?«
»Mann, Alter, das hab ich dir doch schon im Zug erklärt. Ich wäre für den Rest der Ferien viel lieber zu meinem Vater gefahren. Pech für mich, dass der nur meinen Bruder bei sich haben wollte. Zu zweit sind wir ihm angeblich zu anstrengend.«
Pat erwiderte nichts. Auf dieses Thema hatte er keine Lust. Immerhin sah Tim seinen Vater alle paar Wochen. Seiner dagegen hatte sich nicht mehr gemeldet, seit er sich vor ein paar Jahren eine neue Familie gesucht hatte. Pat wusste kaum noch, wie sein Gesicht aussah … egal, es gab Wichtigeres zu tun, als sich mit jemandem zu beschäftigen, der spurlos aus seinem Leben verschwunden war.
Der Weg spaltete sich vor ihnen in drei Richtungen auf. In der einen wurde er etwas breiter, war asphaltiert und führte geradeaus am Waldrand entlang. Die anderen beiden blieben zweispurige Sandwege. Während der eine nach rechts abbog und sich durch die Felder hindurch und an den Windrädern vorbeischlängelte, führte der andere nach links weiter in den Wald hinein. Pat kramte den Zettel aus der Tasche, den ihm seine Mutter als Wegbeschreibung gegeben hatte.
»Wenn ihr euch trotzdem unsicher seid«, hatte sie gesagt, »dann ruf bei Großmutter Sophie an. Vergiss dein Handy nicht. Du kannst dich auch bei Gerhard melden. Der holt euch bestimmt gern mit dem Auto ab.«
Nun, das Handy steckte zwar in der Seitentasche seiner Shorts, war aber momentan ein nutzloser Gegenstand, vergleichbar mit einem Stein, der irgendwo am Wegesrand herumlag. Er hatte vergessen, die Karte aufzuladen. Das Guthaben betrug noch genau zwei Cent. Damit war die Chance gleich null, auch nur ein einziges Gespräch zu führen. Auf Tims Handy wollte er nicht zurückgreifen. Dann fühlte der sich nur wichtig und würde vielleicht Bedingungen stellen.
Natürlich besaß Tim nicht nur schlechte Eigenschaften. Man konnte eine Menge Spaß mit ihm haben. Aufgrund seines schnellen, vorlauten Mundwerks gelang es ihm oft, ganze Gesellschaften unterhalten. Er hatte auch keine Schwierigkeiten damit, ihm vollkommen fremde Menschen anzusprechen, in die verrücktesten Gespräche zu verwickeln und vorübergehende Freundschaften zu schließen. War man jedoch allein mit ihm, wurde es oft anstrengend. Ständig musste er reden und aufgeregt mit den Armen durch die Luft rudern, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Manchmal beneidete er Tim auch um seine Fähigkeiten. Vor allem, wenn er selbst aufgeregt und unsicher war oder vor vielen Leuten reden musste. Dann spielte seine Stimme immer ihr eigenes Spiel. Aber gut, hier und jetzt waren nur sie beide anwesend und es gab nicht den geringsten Grund, aufgeregt zu sein.
»Wir sind jedenfalls schon mal in der Nähe«, sagte Pat und deutete auf ein Schild, das nur wenige Meter entfernt direkt am Waldrand stand.

Willkommen
in der
Gemeinde Himmelsreich

Das Schild war so auf die Reste eines gefällten Baumes montiert worden, dass sich die Aufschrift in Augenhöhe befand.
»Und warum kann man nirgends Häuser sehen?«, maulte Tim.
»Himmelsreich nennt sich der Zusammenschluss mehrerer Dörfer und einer Stadt zu einer Gemeinde«, sagte Pat. »Meine Mutter hat’s mir erklärt. Jetzt müssen wir nur noch unsere Richtung herausfinden.«
Er deutete auf die Pfeile, die unter dem Schild am Baumstamm angebracht waren.
Tim winkte ab und wandte sich dem Asphaltweg zu, der am Waldrand entlangführte. »Ist doch klar – da lang! Die anderen Wege sind extra für die Schwachköpfe angelegt worden, die lieber durch Felder und Wälder wandern.«
»Ich will ganz sicher gehen«, erwiderte Pat und wandte sich den Pfeilen zu. Die meisten wiesen in die Richtung des asphaltierten Weges. Am dichtesten war Jörgenwalde mit zwei Kilometern Entfernung. Am weitesten entfernt befand sich Neustedt. Bis dorthin musste man achtzehn Kilometer zurücklegen und kam unterwegs – laut Ausschilderung – an vier oder fünf weiteren Dörfern vorbei. Von denen war ebenso wenig zu sehen, wie von den beiden Ansiedlungen, die man auf dem Weg querfeldein erreichte: Tachendorf und Beerfelde. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Felder hügelig waren und dadurch die Sicht auf die Ortschaften verdeckten.
»Das ist unser Weg.« Pat nickte zum Pfeil hinüber, der in den Wald hinein wies.

      OT Tannenwalde – 5 Kilometer

Tim stöhnte auf. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Ortsteil Tannenwalde, so steht es hier – sieh selbst!« Pat hielt Tim den Zettel entgegen. Der würdigte ihn keines Blickes. Stattdessen starrte er entsetzt in den Wald.
»Ich werde wahnsinnig«, jammerte er. »Fünf Kilometer latschen, völlig uncool zwischen Bäumen durch? Total stressig und öde langweilig!«
»Zumindest sind wir dann aus der Hitze raus«, erwiderte Pat.
»Wollen wir’s nicht damit probieren?« Tim deutete auf das BMX-Rad. »Du hinten, und ich setze mich vorn auf den Lenker.«
Pat starrte ihn entgeistert an. »Was?!«
»Wenn wir fahren«, erklärte Tim, »dann kommen wir schneller vorwärts.«
»Kannst du mir bitte mal erklären, womit wir fahren sollen?«
»Mit deinem Rad, Bert – ist doch wohl klar.«
Pat kniff die Augen zusammen. »Spinnst du?«
»Wieso denn? Ist das etwa nicht deins?«
»Das ist ein B-M-X, du Dödel! Damit kann man Kunststücke vorführen und über Schanzen springen.«
»Jaja, kein Problem. Musst du deswegen gleich so ausflippen?«
»Nee, aber stell dir nur mal vor, ich würde behaupten, dass du … dass du am liebsten Alpenmusik hörst, wenn ich jemandem erklären will, dass du Rapper bist.«
»Alpenmusik?« Tim ballte die Fäuste. »He, willst du mich beleidigen?«
Pat winkte ab. Niemand hatte das Recht, sich über sein BMX-Rad lus-tig zu machen oder es als Spielzeug zu betrachten! Das wusste Tim ganz genau. Pat bückte sich, um das Fahrradschloss zu öffnen. Anschließend verstaute er es im Rucksack, griff nach dem Fahrradlenker und folgte dem Weg, der in den Wald hineinführte.
Tim starrte ihm wütend nach. Mit seinen Rap-Rhymes hatte er erst vor wenigen Wochen den zweiten Platz beim Schulausscheid belegt und sich damit eine Menge Respekt und Anerkennung unter seinen Konkurrenten und sogar bei einigen Lehrern verschafft. Niemand hätte es gewagt, seine Reime mit Alpenmusik gleichzusetzen, und selbst Pat, sein Lieblingscousin, durfte so etwas nicht tun!
Tim verschränkte die Arme vor der Brust, presste die Lippen fest aufeinander und sah trotzig in den Himmel, während in seinem Kopf ununterbrochen ein einziges Wort kreiste:

    Alpenmusik, Alpenmusik, Alpenmusik …

Über ihm, am wolkenlosen Himmel, drehte ein großer dunkler Vogel seine Runden. Was war das? Ein Adler? Ein Geier? Oder nur eine zu groß gewachsene Taube? Mit offenem Mund starrte Tim nach oben. Der Anblick des Vogels vertrieb die monotone Melodie aus seinem Kopf. Erst jetzt drang das vielstimmige Gezwitscher ringsum zu ihm durch, eingerahmt vom Rauschen, das der Wind in den Baumwipfeln erzeugte. Nur von Pat war nichts mehr zu hören. Tim senkte den Blick. Auch zu sehen war er nirgends. Neben ihm raschelte es im Unterholz. Das erinnerte Tim an eine Fernsehsendung, in der darüber berichtet wurde, dass es wieder Wölfe in den heimischen Wäldern geben soll. Aus diesem Grund hatte er zu Hause vorsorglich die Knaller eingesteckt. Hastig begann er an den Trageriemen zu nesteln, um den Rucksack abzustellen und die Schachtel mit den Knallern hervorzukramen, als sich unvermittelt die Erinnerung an das Ding im alten Bahnhofsgebäude einstellte. Er sah zur Ruine hinüber und erstarrte. Was war das für ein grünes Flimmern in der Luft? Lag es an der Hitze oder bewegte sich tatsächlich etwas? Und kam es direkt auf den Waldrand zu?
Entsetzt stöhnte Tim auf. Er ließ den Rucksack auf seinen Schultern, drehte sich um und hastete in das Halbdunkel des Waldes hinein. Nach wenigen Schritten stockte er. Wo war nur Pat abgeblieben? Die Angst griff mit eiserner Hand nach seinem Herz. Ein Kloß setzte sich in seiner Kehle fest und Tränen strömten ihm in die Augen.
Ein einzelner Sonnenstrahl, der es schaffte, sich seinen Weg durch das Blätterdach zu bahnen, traf unvermittelt auf Metall und schickte einen glitzernden Gruß an den Waldrand. Tim richtete den Blick darauf und erkannte in der Ferne die Umrisse des BMX-Rades. Erneut rannte er los und stoppte erst, als Pat direkt vor ihm lief.
Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte er sich völlig verausgabt und sein Atem rasselte wie sein Handy im Vibrationsmodus. Es dauerte mehrere Minuten, ehe er sich wieder erholt hatte. Auch danach ging es ihm nicht unbedingt besser. Er hätte gern geredet, vollkommen egal worüber. Pat schien jedoch noch immer eingeschnappt zu sein und beachtete ihn nicht, während er sein Rad den Weg entlangschob. Das Schweigen gefiel Tim gar nicht. Es gab für ihn nichts Schlimmeres. So ähnlich reagierte seine Mutter, wenn es zu einem Streit zwischen ihnen gekommen war. Aber dadurch hatte Tim gelernt, wie man Situationen wie diese ein Stück weit entspannte. Er kramte in seiner Tasche und holte das Handy hervor. Über das Menü öffnete er den Musikordner, scrollte sich bis zum S hinunter und drückte auf Start. Schon nach wenigen Takten wippte Pat mit dem Kopf. Seine Augen leuchteten.
»Sido mit Bilder im Kopf«, sagte er anerkennend. »Cooler Song, hör ich oft beim BMX-Fahren.«
Tim grinste und stellte den Ton auf volle Lautstärke. Während sie weiterliefen, brüllten die beiden Jungen im Takt mit. Vergessen war die unheimliche Begegnung am alten Bahnhofsgebäude. Auch der weite Weg, der vor ihnen lag, hatte seinen Schrecken verloren, und die Vögel ringsum verstummten ehrfürchtig. Klänge dieser Art waren sie nicht gewohnt …