Rudersklaven
Hagen van Tronje
Rudersklaven
Erzählungen
Taschenbuch, 2002
170 Seiten
Restexplar à 5,00 Euro
(zu bestellen unter: info@zwiebelfischverlag.de)
Wir waren umgeben von Glasscheiben ...
... durch die getönten konnte man nach draußen sehen, wo die Sonnenkugel wie eine reife Orange am Himmel hing, während die normalen Scheiben die gesamte Etage hier im vierten Stock in unterschiedliche Sektoren unterteilte. Im größten der Räume, direkt vor uns, saßen, rechts und links entlang des Mittelganges, jeweils zwanzig bis dreißig Leute hintereinander aufgereiht und starrten auf die Computerbildschirme vor sich. Ihre Hände und Finger befanden sich in ständiger Bewegung, und selbst durch die dicke Glasscheibe vor uns hindurch hörten wir das gleichförmige, rasende Geräusch, das sie erzeugten: KLICK KLICK KLICK KLICK KLICK …
Sie klemmte sich den Baseballschläger unter die Achsel, bückte sich und griff nach den unteren Enden ihres Nachthemds, um sie bis hinauf zu den Oberschenkeln zu ziehen. Die Zipfel verknotete sie miteinander …
Der Mann an der Stirnseite des Ganges stand hinter einem Gestell, das wie ein Mix aus Amboss und niedrigem Rednerpult aussah. Seinen breiten Brustkorb und die gewaltigen Oberarme durchzogen gut sichtbare, durchtrainierte Muskeln …
Rudersklaven – die Titelstory
„Männer! Es gilt! Der Tag der Entscheidung liegt vor uns. Wir werden in die Geschichte eingehen, weil wir sie an einem Punkt verändert haben, der im Bewußtsein der Menschheit bereits als unumkehrbar festgeschrieben ist.“
Gedämpft wand sich die Stimme, die wie eine Kreuzung aus Krähe und Schlange klang, zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch.
„Doch einen Moment müssen wir uns noch in Geduld üben. Ihr kennt eure Aufgaben, Männer – zieht euch zurück, macht euch unsichtbar! Ich selbst werde die Stellungen und Bewegungen der feindlichen Truppen unter Beobachtung halten und den Befehl zum Angriff geben!“
Es kam kein Murren, keine Gegenrede. Zufrieden nickte Magister Claudius und drehte sich um. Gebückt, jede Deckung ausnutzend, schlich er bis vor zum Weg und versteckte sich hinter einem Baum. Reglos blieb er dort stehen und suchte mit argwöhnischen Blicken die Umgebung ab, ehe er es wagte, auf die andere Seite überzuwechseln. Gleich hinter dem ersten Gebüsch stieß er auf einen dicht gewebten Maschendrahtzaun. Es war jedoch nicht der Zaun, der ihn dazu veranlaßte, sich sofort fallen zu lassen.
Die Schiffe.
Mehr LesenEr hatte die Schiffe entdeckt, zwei- oder dreihundert Meter weiter, in der Nähe eines Bootssteges, da lagen sie vor Anker. Zwischen Magister Claudius und dem Wasser befand sich ein verwildertes Grundstück mit Gebüschen, hohen Gräsern und kleinen, verwachsenen Bäumchen. Lediglich rechts vom Bootssteg gab es eine Ansammlung von hohen Tannen zu sehen, hinter denen sich die Mauern eines Hauses versteckten. Auch die Wachen, die überall auf dem Gelände patrouillierten, waren Magister Claudius nicht entgangen. Hell glänzten ihre Helme im Sonnenlicht.
Hoffentlich hielten sich die Männer an seine Anweisungen! Besorgt drehte sich Magister Claudius um und musterte den Wald auf der anderen Seite des Weges. Doch das rotweiße Glitzern und Funkeln war restlos verschwunden; jene Farbenkombination, die seine Männer für ihre Ausrüstungen und Waffen verwendeten, seit sie die fremde Flagge erbeutet und zu ihrem eigenen Wappen erkoren hatten. Keinem Außenstehenden würde es in den Sinn kommen, daß dort drüben, zwischen den Bäumen versteckt, vier gut ausgerüstete Hundertschaften lagerten. Zufrieden wandte sich Magister Claudius sich wieder um.
Ja, es handelte sich eindeutig um seine Schiffe, dieselben wie damals, als sich das Tor vor ihm geöffnet und die Stimme ihn zu sich ins gleißende Licht gerufen hatte. Im Moment des Seitenwechsels waren für kurze Zeit die Umrisse der Schiffe zu erkennen gewesen, und mit ihrem Auftauchen übermittelte ihm jene Stimme die Botschaft, daß er nur mit ihrer Hilfe die Chance erhalten würde, die große, die einzig wichtige Aufgabe seines Lebens erfüllen zu können.
Seitdem war er auf der Suche gewesen, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Durch tausende Straßen und Gassen hatte er wandern müssen, geheimen, verschlungenen Wegen folgend und nebenbei seine Männer rekrutierend, treue, ergebene und mutige Kämpfer, die ihm bedingungslos in die Schlacht folgen würden.
Auf die heiße Spur der Schiffe jedoch war er erst vor wenigen Tagen gestoßen. Plötzlich klebten überall die Plakate, an Häuserwänden, Mauern und Bäumen, mit dem Bild der Schiffen in der Mitte. Darunter stand der zugehörige Code geschrieben. Magister Claudius begann zu ahnen, daß die entscheidende Schlacht unmittelbar bevor stand und folgte der Richtung, die die Plakate ihm wiesen. Aber erst als er das Meisterschwert mitten im Wald gefunden hatte, da war ihm endgültig klar geworden, daß seine Mission tatsächlich hier an diesem Ort und zu dieser Zeit beginnen würde.
Leider war ihm etwas entfallen, etwas sehr sehr Wichtiges – die Parole!
Daraus leiteten sich der Zeitplan und die Art des Angriffs ab. Außerdem würde es ohne Losungswort keine Verstärkung geben, und allein, ohne Verbündete, war dieser Kampf nicht zu gewinnen. Fieberhaft grübelte Magister Claudius. Wenn es ihm nicht gelang, sich zu erinnern, würde er vielleicht nie wieder die Chance haben, dem Sinn seines Daseins auf Erden gerecht zu werden.
*****
„Verhandlungen?“
„Genau.“
„Und deswegen bis nach Köln?!“
„Du hast es erraten. Bis nach Köln.“
„Und worum geht es dabei!“
„Wozu soll ich das erklären? Für Leute, die außen vor stehen, ist es einfach nicht nachvollziehbar.“
„Es geht dabei nicht um mich, verstehst du? Aber dein Sohn braucht dich, doch wann sieht er dich schon mal, wenn du jeden Tag bis spät in die Nacht arbeitest. Mußt du wirklich …?“
„Ja, ich muß. Die Konkurrenz schläft nicht. Gerade in unserer Branche muß man fit sein. Sonst hat man keinen Erfolg, und dann kann man sich kein Haus leisten, kein Auto, keine Kinder, kein Urlaub, nichts. Gar nichts.“
Susanne Gahl wußte, daß er recht hatte; diese Diskussion führten sie heute nicht zum ersten Mal.
„Trotzdem“, lenkte sie leise ein, „ist es immer schrecklich, wenn du so lange weg bist. Ich werde dich jeden Abend anrufen. Hast du das Handy einstecken?“
„Natürlich. Es liegt im Handschuhfach.“
Beruhigend strich Hendrik Gahl seiner Frau übers Haars. Er wußte, daß das Handy sicher verwahrt im Schubfach des Nachtschranks lag. Dort hatte er es vor einer Stunde abgelegt. Von dieser Seite drohte ihm keine Gefahr, darum brauchte er sich keine Gedanken machen.
„Außerdem sind es doch nur vier Tage,“ sagte er, „bis Sonntagabend, dann bin ich wieder hier und habe drei Tage frei. Dann nehme ich mir Zeit – nur für dich und Mirko.“
„Ja, ich freue mich schon darauf.“
*****
Erschrocken drehte sich die Frau um.
„Wir müssen ihm helfen!“ sagte sie.
„Is’n Penner“, entgegnete der Mann. „Der ist bestimmt bloß besoffen.“
„Aber er bewegt sich nicht.“
„Klar, wenn er im Koma liegt.“
„Daß du immer so herzlos sein mußt.“
„Ich kann nun mal keine Säufer leiden.“
„Du trinkst auch viel.“
„Aber ich liege niemals auf Wegen herum. Ich schaffe es zu jeder Zeit bis nach Hause ins Bett, verstehst du?“
„Daß du immer das letzte Wort haben mußt!“
Mit einem Stoßseufzer verdrehte der Mann die Augen. Diesen Punkt der Diskussion kannte er zur Genüge. Weibertaktik, dagegen kam man nicht an. Jetzt hieß es, kühlen Kopf bewahren, wissen, daß er selbst der Klügere war, ohne es ihr zu zeigen. Das hieß, so zu tun, als würde er sich fügen. Also winkte er kopfschüttelnd ab, brummte vor sich und ging steifbeinig zum Gebüsch am Wegesrand.
„He, Kumpel, aufstehen!“ rief er und rüttelte den Penner an der Schulter. „Die Kneipe macht gleich auf, du kommst zu spät!“
Die Wirkung, die er erzielte, überraschte ihn selbst am meisten, so daß er Mühe hatte, rechtzeitig beiseite zu springen. Der eben noch wie tot am Boden Liegende war unvermittelt wie ein aufgescheuchtes Kaninchen hochgeschossen. Mit wirrem Blick stand er plötzlich vor dem Mann und der Frau auf dem Weg und brabbelte unverständliches Zeugs, wobei ihm der Sabber von den Mundwinkeln auf seinen alten speckigen Mantel tropfte. Dazu fuchtelte er mit einer abgebrochenen, verfaulten Zaunlatte umher. In früheren Zeiten mußte sie einmal rot gewesen sein; rot mit weißen Streifen. Jetzt war die Farbe halb abgeblättert, der Rest verwaschen und mit dunklen Erdklumpen verschmiert.
Instinktiv stellte sich der Mann vor seine Frau und schob sie ein paar Schritte zurück. Es lag nicht an der eigentlich unbrauchbaren Waffe des anderen. Auch nicht an dessen Aussehen. Es war jenes irre, fiebrige Leuchten in den Pupillen, das den Mann zurückschrecken ließ; ein fanatisches, außerirdisches, nicht faßbares Etwas hockte dort, und das war es, was dem Mann einen Heidenschrecken eingejagt hatte!
Als er die anderen zurückweichen sah, erlosch das Interesse des Penners an den beiden. Er bückte sich, griff nach mehreren, prall gefüllten Plastikbeuteln, die er im Gebüsch versteckt hatte und hinkte davon.
„Mensch, hat der gestunken!“ sagte der Mann und schüttelte die Hand, mit der er den anderen berührt hatte.
„Hier, riech mal!“ sagte er und hielt seiner Frau demonstrativ die Finger entgegen. Die trat angewidert einen Schritt zurück.
„Daß du immer so vulgär sein mußt!“
„Du wolltest doch, daß ich den anfasse.“
„Davon habe ich nie etwas gesagt.“
„Was?!“
„Helfen sollest du. Nicht anfassen.“
Genervt winkte der Mann ab.
„Laß uns weitergehen“, sagte er. „Vielleicht finden wir da hinten eine Stelle, an der man bis zum Wasser rankommt. Ich will mir wenigstens die Hand abspülen.“
*****
Hendrik Gahls Dienstreise endete bereits nach dreißig Minuten am Wannsee. Er fuhr auf das Gelände des Segelclubs und stellte seinen Wagen an dem Parkplatz mit der Nummer 25 ab, den er beim Unterweisungsseminar zugewiesen bekommen hatte. Erst überlegte er, ob er etwas vergessen haben könnte, dann aber fielen ihm die Worte des Seminarleiters ein, daß niemand etwas mitbringen müsse, es sei für alles gesorgt, was sie in diesen Tagen bräuchten, dafür hätten sie schließlich bezahlt.
Hendrik Gahl schlug die Autotür zu, schloß ab und ließ die Schlüssel in der oberen Tasche seines Jacketts verschwinden. Er holte den Zettel mit der Wegbeschreibung hervor und begann, der vorgezeichneten Richtung zu folgen.
*****
Magister Claudius inspizierte seinen neuen Beobachtungsplatz von außen und war zufrieden. Hier würde er vor einer weiteren Entdeckungen durch feindliche Späher sicher sein. Er hatte Äste und Laubwerk von überall aus dem Wald aufgelesen und den Platz gut getarnt. Jetzt war es an der Zeit, die Vorratssäcke zu holen. Wo hatte er sie nur abgestellt? Suchend lief er den Weg entlang. Gleichzeitig überlegte er noch immer, wie das Losungswort lautete. Wie hatte er es nur vergessen können? Wonach sollte er sich richten, wenn es ihm nicht mehr einfiel?
„Herr Professor?“
Magister Claudius erstarrte. Da war sie. Die Parole. Jene Worte, die zu ihm gehört hatten über viele Jahre. Jetzt waren sie wieder zum Leben erwacht.
Herr Professor!
Alles paßte.
Alles stimmte.
Der Countdown lief.
Überrascht blickte Hendrik Gahl dem kleinen, grauhaarigen Mann vor sich ins Gesicht. Ihn gerade jetzt, in dieser Gegend und in diesem Aufzug zu begegnen, damit hatte er niemals gerechnet.
„Können Sie sich noch an mich erinnern?“ fragte er. „Ich habe damals in der Uni an Ihrem Unterricht teilgenommen.“
„Du warst mein Musterschüler, nicht wahr?“
„Ich habe nach drei Semestern gewechselt ...“
„Um die modernen Gefechtstheorien zu studieren, ich weiß, ich weiß. Und jetzt bist du hier, damit du in die feindlichen Linien einzudringen und unseren Kampf als Kundschafter unterstützen kannst. Ich bin stolz auf dich, mein Junge, auf dich und deinen Weg, der dich am Ende wieder zu mir zurückgeführt hat.“
Hendrik Gahl wich angewidert zurück. Abgesehen davon, daß das hektische Nuscheln des Professors nur schwer zu verstehen war und überhaupt keinen Sinn ergab; als sehr viel unangenehmer erwiesen sich der Geruch, den er verströmte und der Schaum, der ihm in den Mundwinkeln hockte und beim Sprechen in alle Richtungen spritzte.
Damals allerdings, beim Beginn des Studiums, war Hendrik Gahl, wie alle anderen Studenten auch, begeistert vom Professor gewesen. Der warf fast jede der gängigen Theorien zur Geschichte der Menschheit über den Haufen, und alles, was sie jemals gelernt hatten, schien wertlos zu sein. Jede seiner eigenen Behauptungen untermauerte er mit unzähligen, einleuchtend klingenden Beweisen.
Zu den Lieblingstheorien des Professors, auch daran erinnerte sich Hendrik Gahl, gehörte die Auffassung, daß der Untergang des römischen Reiches hätte verhindert werden können, wenn es in seiner Gier, seiner Unermeßlichkeit und dem Drang, immer größer zu werden und andere uneingeschränkt zu beherrschen, rechtzeitig gestoppt worden wäre.
Manchmal berichtete er von großen Schlachten, die in keinem offiziellen Geschichtsbuch verzeichnet waren und von historischen Personen, die eher oder später gelebt hatten, als es gelehrt wurde.
In diesem Zusammenhang erläuterte er einmal, daß die berühmte Schlacht im Teutoburger Wald niemals dort stattgefunden haben konnte, wo sie einschlägige Quellen und Historiker von Rang und Namen gern hin verlagerten.
Das hatte sich bis zum heutigen Tage in das Hirn von Hendrik Gahl eingebrannt, obwohl es in der Folgezeit für sein Leben ein uninteressanter, wertloser Fakt geworden war.
Damals jedoch war der Professor nicht nur sein Held gewesen; er war Gott und im Besitz allumfassender Weisheit, jedes seiner Worte war Gesetz und in Stein gemeißelt.
Das Idol stürzte an jenem Tag vom Sockel, als Hendrik Gahl den Professor in dessen Haus besuchte. Den Grund für diesen Besuch hatte er längst vergessen, aber nicht das Bild, das sich ihm geboten hatte. Das gesamte Haus erinnerte an einen ein Mix aus Antiquitätenshop und Müllhalde. Jeder Raum, jeder Winkel, buchstäblich jeder Zentimeter war vollgestopft mit Gerümpel. An den Wänden hingen alte, vergilbte Landkarten, verrostete Helme und mottenzerfressene Teppiche. Die Fenster waren mit dicken dunklen Vorhängen abgedichtet – keine äußeren Einflüsse konnten dem Reich des Professors gefährlich werden! Ein Bücherregal war unter der Tonnenlast alter Büchern zusammengekracht und stand nun als Ruine in einem der Zimmer. Die Bücher selbst waren zu Tausenden im gesamten Haus verstreut. Einzelne, herausgerissene Seiten, teilweise mit dick unterstrichenen Stellen in rot und blau und grün bedeckten den Fußboden wie einen Mosaikteppich. Dazu gesellten sich Vasenscherben, Schriftrollen, gräßlich bemalte Totenmasken, zwei noch eingerollte Mumien, alte Felljacken, Teile von Plakaten sowie Heerscharen von angestaubten Zinnsoldaten, die sämtliche Ecken und Zimmern des Hauses bevölkerten und den Verlauf längst vergangener Schlachten darstellten.
Über allem jedoch hing ein eigentümlicher, penetranter Geruch, der sich wie ein Geschwür in der Nase festsetzte. Den Grund erkannte Hendrik Gahl, als er die Küche zu Gesicht bekam. Es war nicht so sehr die Müllplatzidylle, die in seinem Gedächtnis haften geblieben war. Aber er konnte sich noch sehr genau an das Gefühl seines Magens erinnern, als er erkannte, daß es sich bei dem weißen Flaum, der den gesamten Innenbereich der Küche wie einen zarten Seidenüberwurf auskleidete, um den größten Schimmelpilz handelte, den er je gesehen hatte.
Kurz darauf hatte Hendrik Gahl die Studienfächer gewechselt. Und sollten ihm jemals Zweifel an der Richtigkeit dieses Schrittes gekommen sein, jetzt hatte er den Beweis. Nein, es war auf jeden Fall besser gewesen, die Manager- und Wirtschaftsseminare zu besuchen und einen Weg zu gehen, der durch feste Werte, klare Regeln und Grenzen markiert wurde.
Was andernfalls dabei herausgekommen wäre, hatte er leibhaftig vor sich zu stehen. Der Mann war am Ende, ein Wrack. Was konnte man mit sowas überhaupt noch anfangen? Der brachte keinen Nutzen. Weder menschlich noch für die Gesellschaft. Hastig verabschiedete sich Hendrik Gahl.
„Wenn es soweit ist, gib uns das Zeichen für den Angriff! Ich werde mit meinen Männern solange ausharren.“
*****
„Den Unterlagen habe ich entnommen, daß Sie das erste Mal unser Gast sind. Das stimmt doch, oder?“
„So ist es.“
„Aber Sie haben am Unterweisungsseminar teilgenommen?“
„Ja.“
„Damit wissen Sie über die Grundregeln Bescheid. Die noch fehlenden Informationen bekommen Sie jetzt von mir.“
Sie zog ein Kleiderbündel aus dem Regal zu ihrer linken Seite und legte es auf den Tisch.
„Das ziehen Sie nachher an. Ihre jetzige Kleidung legen Sie bitte in einen der Schränke im Flur ab, und die Nummer binden Sie um das Handgelenk, verstanden?“
„In Ordnung.“
„Ihr Name lautet ab sofort Welfo.“
„Welfo?“
„Ist germanischer Abstammung.“
„Ah, ich verstehe.“
„Wenn Sie vorzeitig beenden wollen, egal in welcher Situation oder zu welcher Zeit, so sagen Sie bitte den Satz: ’Ich möchte bitte den Kapitän sprechen’.“
„Den Kapitän sprechen.“
„Nein: ’Ich möchte bitte den Kapitän sprechen’.“
„Ah so. ’Ich möchte bitte den Kapitän sprechen.’“
„Genau. Haben Sie das Ausbildungsgeld bezahlt?“
„Ja, gestern.“
„Schön, dann geben Sie mir jetzt bitte die Quittung.“
„Hier ist sie.“
„Lassen Sie mal sehen. 600,- Euro, korrekt. Dann wäre soweit alles geklärt. Haben Sie noch eine Frage?“
Hendrik Gahl nickte. „Sie sind nicht die Frau, die ich nach Durchsicht der Videokassetten ausgewählt hatte.“
Seine Gesprächspartnerin lächelte.
„Das haben Sie vollkommen richtig erkannt“, erwiderte sie gelassen.
„Um ganz sicher zu gehen, möchte ich meine Auserwählte noch einmal aus der Nähe betrachten, und zwar bevor das Spiel beginnt.“
„Da muß ich Sie leider enttäuschen. Das Spiel hat bereits begonnen.“
„Ach ja?“
„In dem Moment, als sie dieses Grundstück betreten haben. Und mit der Überreichung der Quittung haben Sie auch die Regeln akzeptiert.“
„Aber ich wollte nicht die Katze im Sack …“
„Glauben Sie mir, Sie werden nicht enttäuscht sein. Bisher hat noch niemand die Dienste der ’Freunde des Rudersports’ in Anspruch genommen, ohne voll auf seine Kosten gekommen zu sein.“
„Habe ich eine Garantie dafür?“
„Sie können jederzeit aussteigen.“
„Und …“
„Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie nicht mehr im Recht sind, zu widersprechen oder weitere Fragen zu stellen.“
Die Gesichtszüge der Schönen wurden plötzlich so unnahbar wie ein Granitblock, während ihre Stimme jedes der letzten Worte messerscharf betonte. Sie griff nach dem Bündel auf ihrem Schreibtisch und warf es Hendrik Gahl an die Brust.
„Und jetzt raus hier!“
*****
Magister Claudius hatte sich mit den wiedergefunden Proviantsäcken in seinem neuen Versteck niedergelassen und verfolgte nun mit wachsendem Interesse die Vorgänge auf dem Gelände zwischen dem Zaun und dem Ufer des Wannsee.
Anfangs wollte er einfach nur die beiden Schiffe im Auge behalten und dazu ein kleines Frühstück einnehmen, das er aus den gesammelten Vorräten seiner Proviantsäcke zusammengestellt hatte. Auf einmal jedoch begannen sich die Ereignisse dermaßen zu überschlagen, daß das Essen unwichtig wurde.
Er hatte die Römer voll im Visier. Inzwischen wußte er, hinter welchen Bäumen sie lauerten und in welchem Rhythmus sie Patrouille liefen. Aber er warnte niemanden. Wozu auch? Schließlich nahmen ihm die Römer jede Menge Arbeit ab, indem sie für die Bestückung der Schiffe sorgten, die ihn bis nach Rom bringen würden. So brauchte er später nicht seine eigenen Männer an die Ruder zu setzen und konnte ihre Kräfte für den wirklich entscheidenden Kampf aufsparen.
Auch der nächste Wilde, den er eindeutig als Germanen identifizierte, tappte in die Falle. Was war das bloß für ein dummer Kerl! Der hatte keine Waffen dabei und lief, nur mit einen kurzen Lendenschurz und einer Felljacke bekleidet, völlig unbedarft durch die Gegend, die regelrecht von Römern verseucht war.
„Erstaunlich“, murmelte Magister Claudius vor sich hin, während er beobachtete, wie der Wilde von drei Legionären eingefangen, gefesselt und schließlich in das große Haus hinter den Bäumen geschafft wurde. „Ganz erstaunlich, wieviele Völkergruppen sich damals hier in dieser Gegend herumgetrieben haben. Am Anfang tauchten nur Germanen auf, so wie es sich gehört. Jetzt am Ende war es auch einer. Aber dieser Araber dazwischen und der Gallier und die beiden Mauren – wirklich eine Sensation! Ich hatte ja keine Ahnung, daß die sich in der freien Wildbahn jemals über den Weg gelaufen sind. Erstaunlich, wirklich erstaunlich …“
*****
Der Mann, der an der Stirnseite des Ganges hinter einem Gestell stand, das wie eine Mix aus Ambos und niedrigem Rednerpult aussah, war nur mit einem ledernen Lendenschurz bekleidet und trug einen silbernen Helm auf dem Kopf. Seinen breiten Brustkorb und die gewaltigen Oberarme durchzogen gut sichtbare, durchtrainierte Muskeln.
„Der einzige“, begann er mit schneidener, seltsam gepreßter Stimme, „der einzige, der hier redet, bin ich. Ich gebe den Takt vor, ich bestimme, wann Pause gemacht wird, wann es Essen gibt, wann jemand pinkeln geht und wann geschlafen wird, verstanden?!“
„Und rauchen?“
Der Muskelprotz warf ihm nur einen kurzem Blick zu, dann hob er einen Arm und schnippste mit den Fingern. Das war offensichtlich das Zeichen für einen der beiden Kerle, die im hinteren Bereich des Raumes standen. Er war ganz in Leder gekleidet, hielt eine kurze Peitsche in der rechten Hand und blieb auf der Höhe des Zwischenrufers stehen. Auf ein weiteres Zeichen des Muskelprotzes vorn am Pult, zog er ihm die Peitsche über den Rücken. Der Mann stöhnte überrascht auf.
„Der einzige, der redet, bin ich!“, der Mann am Pult nickte dem Lederkerl ein weiteres Mal zu, „außerdem werden keine Fragen gestellt.“
Wieder knallte die Peitsche auf den Rücken des Zwischenrufers.
„So, das hätten wir geklärt. Ihr seid nichts wert. Ihr seid absolute Nullen. Elendes Gesindel. Abschaum. Dewegen ist es eine Ehre für euch, Dienste leisten zu dürfen. Dienste für das ruhmvolle römische Reich, für seinen Kaiser und seine Bürger. Wenn ihr gute Arbeit abliefert, gibt es Belohnungen. Alles andere wird bestraft. So, lange Rede, kurzer Sinn. Hebe ich den Hammer, beugen sich alle nach vorn. Schlägt der Hammer auf den Amboß, zieht ihr die Ruder mit voller Kraft nach hinten. Und Rhythmus halten, sonst hat es sich erledigt mit der Belohnung.“
Gleich darauf hallte der erste Hammerschlag durch den Raum.
*****
„Hier muß irgendwo die Stelle sein, wo er gelegen hat.“
„Was? Wer?“
„Der Penner; kannst du dich an den noch erinnern?“
„Deswegen hast du mich mit hierher geschleppt?!“ Die Frau verzog unwillig das Gesicht. „Ich wäre lieber beim Mittelaltermarkt geblieben.“
„Da war doch gerade diese laute Band zu Gange.“
„Na und, ein paar Meter weiter, bei den Imbißständen, hat man den Krach fast nicht mehr gehört, und wir hätten eine Bratwurst essen können. Übrigens, wolltest du nicht die Wettkämpfe mit den Kreuzrittern sehen?“
„Die fangen erst in zwei Stunden an.“
„Und was ist mit dem Galeerenrennen? War das nicht so unheimlich wichtig, weil du die Schiffe konstruiert hast?“
„Quatsch, konstruiert! Wir haben in unserer Werkstatt die Ruderblätter hergestellt und zwar nach originalen Bauplänen aus der Zeit, als sie mit dem Schiffsbauen angefangen haben …“
„Ja, ja, schon gut. Trotzdem wolltest du das Rennen sehen.“
„Genau das ist der Punkt. Das Rennen läuft erst morgen, am Sonntagvormittag. Doch wenn wir von drüben, vom Strandbad aus, zusehen wollen, müssen wir bezahlen. Die billigste Karte kostet zwanzig Euro.“
„Was? Vierzig für uns beide zusammen? Nein, mach, was du willst, aber das sehe ich nicht ein.“
„Eben, ich auch nicht. Deswegen bin heute mit dir hierher gegangen. Kannst du dich noch an die Stelle erinnern, wo ich mir vor zwei oder drei Tagen die Hände abgespült habe, weil der Penner so gestunken hat?“
„Das muß ein Stück weiter vorn sein.“
„Genau. Von dort aus ist die Sicht genauso gut wie vom Strandbad. Wir nehmen unsere Campingstühle mit und müssen keinen Pfennig bezahlen. Bist du einverstanden?“
„Das wäre wirklich zu überlegen.“
„Wir können auch unseren Picknickkorb mitnehmen, dann sind wir vollkommen unabhängig vom Fest und können das Rennen ganz gemütlich mitverfolgen.“
„Was ist das überhaupt für ein Fest? Warum wird soviel Wirbel darum gemacht?“
„Also auf den Plakaten stand etwas mit 2020 Jahren …ähm … ah, jetzt hab ich’s wieder … äh …Teutoburger Wald war da.“
„Wie?“
„Der Teutoburger Wald.“
„Was soll das denn sein?“
„Na ja, ähm … so ein Staat aus dem Mittelalter, genau, ein Staat, der gegen Kreuzritter, Römer und Wikinger kämpfen mußte. Später, also vor genau 2020 Jahren, kamen dann die Germanen und haben das Land erobert. Deswegen gehört es heute zu Deutschland. So haben wir es doch damals in der Schule gelernt, kannst du dich nicht mehr erinnern?“
„Natürlich, kann ich das. Aber was haben die Schiffe mit einem Wald zu tun?“
„Na ja, weißt du, ich glaube, der Teutoburger Wald lag an einem großen See und außerdem haben sie damals angefangen, richtige Schiffe zu bauen. Vorher gab es nur Kähne und Flöße.“
„Ach so, darum geht’s. Los, laß uns zurückgehen. Inzwischen habe ich richtig großen Hunger bekommen.“
„Ich auch.“
„Weißt du, ’Oscar’s Schlemmerparadies’ hat einen Biergarten auf dem Festtagsgelände aufgebaut. Da gibt es Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffeln. Das wäre doch genau das Richtige; essen wie damals im Mittelalter vor 2020 Jahren.“
„Ja, und ein großes Bier dazu.“
Magister Claudius, der ein paar Meter weiter gut verborgen unter seinem Blätterdach lag, hatte dem Gespräch nur eines entnommen:Teutoburger Wald. Das war der Code, der auch auf den Plakaten gestanden hatte. Die Schlacht stand kurz bevor! Er war auf dem richtigen Weg, seine Mission zu erfüllen.
*****
Hendrik Gahl wurde wach, als jemand an seinem Oberarm rüttelte. Er spürte die Erschöpfung, jeder Muskel meldete sich in seinem Körper zu Wort, selbst an Stellen, wo er niemals Muskeln vermutet hätte. Aber es war eine Erschöpfung, die in eine Art Rausch übergegangen war und eine vollkommene Leere im Kopf schuf – kein Fitnessstudio hatte ihm das jemals bieten können. Inzwischen hatte er jegliches Zeitempfinden verloren. Sein Tagesablauf teilte sich in Perioden zwischen Rudern, Schlafen, Essen und wieder Rudern auf. Die gelegentlichen Gänge zur Toilette fügten sich nahtlos ein.
Jetzt aber wurde dieser Rhythmus unterbrochen, denn das Schütteln und die Stimme gehörten eindeutig nicht dazu. Verschlafen richtete sich Hendrik Gahl auf. Er saß ganz außen auf seiner Ruderbank, und deutlich nahm er die Schemen der anderen vier neben sich wahr. Sie hatten die Arme über die hölzerne Ruderstange gelegt, den Kopf darauf gebettet und schliefen. Die Stimme kam von der anderen Seite, vom Gang. Sie gehörte einer Frau, die genauso gekleidet war wie die die beiden Kerle mit ihren Peitschen, mit dem Unterschied, daß ihre Kleidung nicht aus Leder sondern aus rotem Lack bestand.
„Wach auf, Sklave!“ sagte sie zwar freundlich, aber bestimmt. „Du hast dir eine Belohnung verdient.
Es war soweit. Hendrik Gahl spürte es, noch bevor er die Bedeutung der Worte begriff. Ein Adrenalinstoß schoß durch seinen Körper. Freudig erregt ließ er sich von ihr das Lederband um den Hals legen, an dem sie ihn schließlich hochzog und die kurze Leine befestigte. Die Frau stand für ihn im Rang einer Göttin. Unerreichbar. Unnahbar. Die Herrin über Gut und Böse. Beschützerin und Richterin.
Während sie an den Reihen der Ruderbänke vorbeiging, tippelte er auf allen Vieren hinter ihr her. Sie verließen den Ruderraum, durchquerten einen Flur und betraten ein dämmeriges Extrazimmer. Die Herrin ließ sich auf einem Stuhl nieder, während Hendrik Gahl vor ihr hocken blieb.
„Freust du dich?“ fragte sie.
Hendrik Gahl mußte nicht lange überlegen. Er ließ sich seitlich abkippen, rollte in Rückenlage und zog Arme und Beine auf Welpenart an. Mit ergebenem Blick und heraushängender Zunge sah er zur Herrin hinauf. Die streckte ein Bein aus und strich mit dem hochhackigen Stiefel über seine Schenkel. Hendrik Gahl wimmerte unter ihren Streicheleinheiten. Als sie den Bereich seiner Lenden erreichte, richtete sich sein Penis steil auf.
„Du bist ja ein ganz Süßer“, sagte die Herrin, ohne eine Miene zu verziehen, „doch wir sind erst am Beginn unserer Lektion. Für eine Belohnung reicht es noch nicht.“
Ihr Stiefel verließ den Bereich seiner Körpermitte, wanderte kreisend über seinen Bauch, die Brust, den Hals und stockte unmittelbar über seinem Gesicht.
„Ablecken!“ kam der Befehl. „Bis sie wieder glänzen.“
Und während Hendrik Gahl eifrig jeden Zentimeter ihrer roten Stiefel mit seiner Zunge polierte, zog die Herrin den Zettel aus ihrem Mieder, auf dem die weiteren Vorlieben des neuen Kunden aufgelistet waren.
*****
Magister Claudius lag in seinem Versteck und rührte sich nicht. Drei Tage und zwei Nächte hatte er sich kaum von seinem Beobachtungsplatz fortbewegt. Außer einigen wenigen Schlummer-pausen hatte er fast ununterbrochen die beiden Schiffe und das Gelände davor beobachtet. Alles war vorbereitet. Er hatte es sogar geschafft, mehrere Löcher in den Zaun hineinzuarbeiten. Dabei war er ein großes Risiko eingegangen, denn mit halbem Auge mußte er stets das Gelände im Blick behalten, um nicht von einem Posten entdeckt zu werden, die immer wieder plötzlich zwischen den Bäumen auftauchten.
Aber eine optimale Vorbereitung war notwendig, damit seine Männer freie Bahn hatten, wenn der Befehl zum Sturm eintraf. Einmal war er kurz hinüber in das Waldstück gehuscht, um seinen Männern Mut zuzusprechen, damit sie durchhielten und nicht vor der Zeit unruhig wurden. Jetzt aber, in der dritten Nacht, hatten ihn Übermüdung und Erschöpfung überwältigt. Er schlief tief, fest und traumlos, es waren viele Stunden nachzuholen.
Im ersten Morgengrauen, als noch dicke Nebelschwaden über dem See trieben und schwere Wolken den Himmel bedeckten, öffneten sich die Doppelflügeltüren des Hauses hinter den Tannen. Aus den Tiefen der Kellerräume schob sich eine apathische, schwankende Masse nach oben, trat hinaus ins Freie und ließ sich von einer Handvoll Leuten mit Helmen und Brustharnischen die Richtung weisen.
Es handelte sich um zwei Reihen von abgerissen wirkenden, halbnackten Männern, deren Knöchel paarweise mit Lederriemen aneinandergebunden waren. Sie folgten stumm den Anweisungen der Behelmten, die sie auf den Bootssteg trieben. Dort wurden die Reihen neu aufgeteilt. Die eine folgte der hölzernen Gangway, die am Ende des Steges begann und nach rechts führte. Die andere Reihe marschierte über die vordere Gangway und verschwand im Bauch des linken Schiffes.
Ein Teil der Wachmannschaft verblieb noch geraume Zeit auf dem Deck, wuselte hin und her und war damit beschäftigt, Seile zu spannen.
*****
Ein Böller aus einer altertümlichen Kanone wurde abgefeuert. Der Knall breitete sich, gefolgt von mehrfachen Echos, in alle Richtungen aus. Als Grenzelinien erwiesen sich lediglich die dünner gewordene Wolkendecke, hinter der die Sonne bereits in den Startlöchern stand und die Oberfläche des Wassers.
„Werte Gäste!“ donnerte gleich darauf eine Megaphonstimme über den See. „Ich möchte Sie auf das herzlichste begrüßen und freue mich, daß sie so zahlreich erschienen sind. Ein weiterer Höhepunkt anläßlich der 2020-Jahrfeier für die Schlacht im Teutoburger Wald steht bevor. Die Regatta der beiden Galeerenschiffe, die anhand originalhistorischer römischer Überlieferungen nachgebaut wurden, startet in wenigen Minuten. Ein Dankeschön möchte ich all denjenigen aussprechen, die so eifrig das Angebot unserer Wettschalter genutzt haben. Dadurch können wir zumindest ein Teil der Ausgaben an den Verein ‚Freunde des Rudersports’ zurückzahlen, der das Vergnügen am heutigen Tag ermöglicht und vorfinanziert hat. So, und jetzt sind wir ganz gespannt auf den Startschuß, denn Sie wissen ja, derjenige, der auf das richtige Schiff gesetzt hat und der Siegerzeit am nächsten kommt, gewinnt 5000,- Euro…“
Mit einem Satz war Magister Claudius aufgesprungen. Das Zeichen zum Angriff war gegeben worden – die Schlacht konnte beginnen! Und nur er allein wußte, daß die römischen Söldner dort vorn verlieren würden, gegen die Retter der Geschichte. Der Zeitpunkt war gekommen, den Lauf der Geschichte zu korrigieren und nach Rom aufzubrechen. Dort würden sie wegen der erlittenen Niederlage stark angeschlagen sein und kaum mit einem Angriff rechnen, so daß es ihm und seinen Männern im Handstreich gelingen würde, alle strategisch wichtigen Punkte zu erobern …
„Auf, Männer, auf!“ brüllte er zum Wald hinüber. „Es ist soweit, wir greifen an!“
Gleich darauf zwängte er sich als erster durch eines der Löcher im Zaun, richtete sich auf der anderen Seite wieder auf und lief schwertschwingend zum Wasser hinunter, dorthin, wo sich die Ruder der Schiffe mit dem Böllerschuß halbhoch in die Luft erhoben hatten und nun, in Erwartung weiterer Befehle, knapp über der Wasseroberfläche verharrten.
Am Ufer angekommen, watete Magister Claudius sofort in das seichte Wasser hinein. Er wußte, wohin er sich wenden mußte. Das herabhängende Seil, das kurz vor dem Bugende eines der Schiffe, zwischen der letzten und der vorletzten Ruderluke vom Deck herabhing, hatte er bei seinen stundenlangen Beobachtungen als ideale Enterhilfe ausgemacht. Das Wasser saugte sich in den Enden seines Mantels fest, stieg über seine Knie, die Oberschenkel und reichte schon bis an seine Brust heran, als er endlich am Schiff ankam. Freudetrunken streckte er die Hände nach dem Seilende aus – da ertönte der Startschuß, wiederum ein Böller, der diesmal aus mehreren Kanonen gleichzeitig gezündet wurde. Eine Sekunde später schossen die Ruder nach vorn. Das Blatt des letzten Ruders erwischte Magister Claudius frontal an der Stirn. Sterne tanzten im Kreis vor seinen Augen, während er das Seil losließ und langsam, fast in Zeitlupentempo, rücklings ins Wasser abkippte.
Als er wieder zu sich kam, stand die Sonne kurz davor, die Wolkendecke zu durchstoßen, und sein Kopf befand sich knapp über der Wasseroberfläche. Der Boden unter seinen Füßen dagegen war verschwunden, Nase und Mund hatten sich mit Wasser und Schlamm gefüllt. Mit den Augen aber konnte er die Schiffe sehen. Es war bereits weit entfernt.
Doch er, Magister Claudius, liebte das römische Reich, seine Menschen, seine Künste, seine Bauten – sie waren das auserwählte Volk. Es durfte nicht untergehen! Es mußte nur auf den rechten Weg zurückgeführt und von den Blendern und falschen Verführern befreit werden.
Prustend und um sich schlagend wehrte er sich gegen das drohende Ende. Seine Kräfte allerdings schwanden zusehends. Plötzlich öffnete sich der Himmel, und ein gleißendes Licht brach hervor, wie damals beim Übergang, als sich das Tor für Magister Claudius geöffnet hatte. Und wie damals meldete sich die Stimme:
„Die Schiffe. Sieh genau hin. Die Schiffe.“
Magister Claudius hörte auf, mit den Armen um sich schlagen. Er sah den Schiffen hinterher, und endlich entdeckte er die rotweißen Pünktchen, die oberhalb der Decks zu Hunderten aufblitzten und leuchteten – die Farbe der Helme und der Rüstungen seiner Männer!
Sie haben es geschafft, jubelte Magister Claudius, sie haben die Schiffe geentert!
Er hatte die Männer instruiert für diesen Fall, sie wußten, was sie zu tun hatten. Sie würden die Mission zu ihrem Ende führen. Allmählich füllten sich Magister Claudius’ Lungen mit Wasser. Doch das Siegerlächeln hatte sich fest um seine Lippen eingebrannt, als er, vom goldenen Licht umfangen, der Tiefe entgegensank.
*****
„Hast du das eben gehört?“ rief die Frau. „Als ob jemand ins Wasser gefallen ist!“
„War bestimmt bloß ’n Vogel, der sich ’n Fisch geschnappt hat“, entgegnete der Mann. „Oder der Typ von neulich, der so gestunken hat, der Penner. Den haben sie vielleicht mit in die Show eingebaut, als Galeerenstürmer …“
„Hör auf mit deinen dummen Witzen! Ich kann es nicht mehr ertragen.“
„Was soll ich dir denn sonst auf so eine Frage antworten?“
„Ich erwarte, daß du mich ernst nimmst.“
„Also gut, du hast das Geräusch der Ruder gehört. Wahrscheinlich ist jemand aus dem Takt geraten, dadurch kam es zu einem Zwischenschlag.“
„Wirklich?“
„Wenn ich’s dir doch sage!“
„Und was blendet da so?“
„Die Sonne.“
„Nein, das meine ich nicht. Es kommt von den Schiffen.“
„Ach so, du meinst die Wimpel, mit denen sie die Galeeren geschmückt haben. Die stammen doch von dieser Colafirma, die den Bau der Schiffe gesponsert hat. Damit sie besser zu sehen sind, haben sie als Material Glitzerpapier verwendet. Wenn aber die Sonne jetzt nicht rausgekommen wäre, hätte sich der ganze Aufwand gar nicht gelohnt …“
*****
Hendrik Gahl hatte eben den Wagen in der Einfahrt abgestellt, als ihm Susanne, seine Frau entgegenkam. Triumphierend hielt sie das Handy in die Höhe.
„Ich habe abends im Bett gelegen“, plapperte sie los, „und deine Nummer angewählt. Weißt du, wo es geklingelt hat?“
„Keine Ahnung.“
„In deinem Nachtschrank. Deswegen konnte ich dich nicht erreichen. Das nächste Mal werde ich dir Tasche packen.“
„Es tut mir leid“, erwiderte Hendrik Gahl müde und schlich an ihr vorbei ins Haus. „Kannst du mir ein Bad einlassen? Ich bin fix und fertig.“
Als er wenig später in die Wanne stieg, starrte Susanne erschrocken auf seinen Rücken. „Wo hast du denn all die roten Striemen her?“
„Schatz, weißt du wie stressig diese Verhandlungen sind? Du mußt pausenlos fit sein und mitdenken. Zum Abreagieren war ich jeden Abend drei, vier Stunden im Fitnessstudio. Und die Geräte hinterlassen halt ihre Spuren, wenn man sich richtig reinhängt.“
Susanne nickte und strich ihm mitfühlend übers Haar.
„Ich bringe dich nach dem Baden am besten gleich ins Bett“, sagte sie sanft. „Damit du dich erholen kannst.“
„Ja,“ erwiderte Hendrik Gahl, „es waren wirklich harte Verhandlungensrunden. Und verdammt zähe Gegner. Sie haben sich gewehrt, bis zum Schluß. Aber es hat ihnen nichts genutzt. Wir haben sie trotzdem in die Knie gezwungen.“