Fluchtpunkt - ein roadmovie
Hagen van Tronje
Fluchtpunkt - ein roadmovie
Taschenbuch, 2003
230 Seiten
Restexemplar à 5,00 Euro (zu bestellen unter:
info@zwiebelfischverlag.de
Was geschieht, wenn man katapultartig ...
... und ohne Vorzeichen aus einem gewöhnlichen Leben mit seinen Höhen und Tiefen in einen pechschwarzen Abgrund geschleudert wird – wenn der Ausnahmezustand Normalität wird? Nur weil man ein einziges Mal in seinem Leben zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist ….
Genau das widerfährt Henry, dem Haupthelden der Geschichte, als er eines Nachts auf der Landstraße mit seinem Auto unterwegs ist und Zeuge eines mysteriösen Unfalls wird. Daß dabei Zeugen unerwünscht sind, geht ihm erst auf, als er zum Mitwisser eines Mordes wird und unversehens selbst ins Visier der Killer gerät. Gerade noch rechtzeitig gelingt es ihm zu fliehen, bevor sich die anderen seiner entledigen können, weil er sah, was niemand hätte sehen dürfen.
Als er vermeint, wieder in Sicherheit zu sein, erscheint ihm die Situation so absurd und unglaublich, daß er sich einredet, einer Einbildung erlegen gewesen zu sein. Doch recht bald schon muß er einsehen, daß die Bedrohung, der er ausgesetzt war, sehr real ist …
Und hier die ersten Szenen:
1
Wie ein Extragruß der Erde an den Rest der Welt schoß die Feuersäule hinter den Bäumen kerzengerade in den Nachthimmel hinein. Henry wußte, lange bevor er die Kurve erreicht hatte, daß es nur den roten Alfa Romeo erwischt haben konnte. Kein Wunder, der Großkotz war bei 130 lässig an ihm vorbeigerauscht und hatte ihn stehenlassen wie die hinterletzte, schleichende Ente! Henry haßte es, vorgeführt zu werden, das konnte er auf den Tod nicht ausstehen, aber gegen diese aufgemotzten Karren war er mit seinem Mittelklassewagen chancenlos. Im Grunde lag ihm auch nichts an dieser Art von Wettrennen und normalerweise ließ er Idioten wie den einfach kampflos ziehen. Doch es gab Tage, da klebten einem sämtliche Stunden von früh an verquer am Rücken. Bereits die Diagnose des Arztes am Vormittag hatte sich als Dilemma erwiesen, obwohl sie lediglich bestätigte, was Henry selbst seit einiger Zeit vermutete. Solange aber keine Gewißheit bestanden hatte, war es ihm stets gelungen, seine Befürchtungen einfach in einer Ecke abzulegen und auf diese Weise zu verdrängen. Auf der Straße wartete der nächste Schlag in Form eines Strafzettels, der unter seinem Scheibenwischer klemmte. Eine Lappalie, sicherlich, aber was ging es irgendwelche Leute an - die er nicht einmal kannte!, - wo sein Auto parkte? Sie erwischten einen unter Garantie immer in den wirklich ungünstigsten Momenten und schafften es, einen noch weiter runterzuziehen. Der absolute Höhepunkt erwartete ihn dann im Büro, als Jansen, sein Teilhaber an der Firma, erklärte, daß der Auftrag, den Henry bearbeitet hatte, wieder zurückgekommen war - und zwar zum dritten Mal innerhalb von wenigen Tagen! Verdammt, was konnte er, Henry, dafür, wenn einige ihrer Kunden dem Glauben anhingen, daß der Druck, den sie ausübten, automatisch dazu führte, die Arbeit in Rekordzeit und gleichzeitig in bester Qualität zu bekommen? Es war nicht sein Problem! Mehr Lesen
Jansen hatte versucht, Henry zu beruhigen und mögliche Fehler in den Zeichnungen aufzuzeigen, aber heute war er mit seinen Erklärungen an die falsche Adresse geraten. Am Ende beschimpfte Henry auch ihn und sie gerieten ins Streiten.
Nun gut, das ließ sich in den nächsten Tagen wieder geradebiegen, zumindest würde er nicht zulassen, daß sich Nichtigkeiten zwischen sie schoben, denn einen besseren Mitarbeiter und Freund als Jansen fand er nirgend sonst. Er mußte nur versuchen, sich wieder einzukriegen. Wenn man sich allerdings wegen nörgelnden Kunden und zurückkehrenden Aufträgen die halbe Nacht um die Ohren schlagen mußte, war das Einkriegen nicht ganz einfach - jedenfalls geschah es dem Mistkerl da vorn ganz recht! Unwillkürlich pflanzte sich ein breites, schadenfrohes Grinsen in Henrys Gesicht, wenigstens mußte er sich nicht alles Leid der Welt auf die eigenen Schultern packen lassen! Gleichzeitig beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Was würde er zu sehen bekommen?
Es stand außer Zweifel, und da brauchte er sich nichts vorzumachen, daß er derjenige sein würde, der als erster die Unfallstelle erreichte. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte bereits kurz nach Mitternacht an und um diese Zeit fuhren hier keine Autos mehr herum. Das Seebad hatte ebenso wie die Golfplätze drüben an der Autobahn längst geschlossen, und in den Dörfern ringsum war schon vor Stunden Ruhe eingekehrt.
Bilder von verkohlten Leichen drängten sich ihm auf, aber das war nicht mal die härteste Variante. Unwillkürlich nahm Henry den Fuß vom Gas. Was, wenn der Fahrer noch lebte, eingeklemmt hinterm Steuer und sich die Seele aus dem Rest des Leibes schrie? Was, wenn es den anderen Typen gelungen war, aus dem Auto rauszukriechen, um letztlich als brennende Fackeln durch die Gegend zu laufen? Und was, wenn ihre Hemden aus diesen Stoffen bestanden, wo die Fasern, statt zu verbrennen, mit der Haut verschmelzen und sich in sekundenschnelle tief ins Fleisch vorfressen? Das war das Schlimmste, was sich Henry überhaupt vorstellen konnte. Er spürte, wie sich vor Angst kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Bisher hatte ihn das Schicksal vor allzu schweren Schlägen in dieser Richtung bewahrt. Auf seinem Konto verbuchte er lediglich einen kleinen Auffahrunfall und diesen Crash, den er als Außenstehender beobachtet hatte und seitdem immer am Kneipentisch zum besten gab, diese Sache, als der besoffene Maler in seinem Rausch die Auffahrt zur Brücke verpeilt hatte. Doch das war wirklich ein Witz zu der Geschichte da vorn. Damals brauchte Henry nur hinterherzuspringen und konnte den Mann im hüfthohen Wasser ohne Probleme aus seinem Auto herausziehen. Hinterher stellte sich raus, daß der Maler deswegen nicht in der Lage war, sich selbst zu retten, weil er unter Strom stand und eben erst eine Kneipe verlassen hatte. Später saß er am Ufer und heulte wie ein Schloßhund, nicht etwa, weil sein Wagen langsam im Schlamm versank, sondern weil auch seine beiden Gemälde abgesoffen waren, die er hinten auf der Ablage zu liegen gehabt hatte! Ansonsten kannte Henry das Blut, die zerwürgten Knochen und den Jammer nur vom Bildschirm her, aus den Filmen und Berichten. Jetzt, das spürte er, würde es nicht dasselbe sein. Bei diesen Bildern fehlten die Gerüche, die Körper zum Anfassen und es betraf einen irgendwie nicht wirklich.
Los, schoß ein panischer Befehl durch seinen Kopf, wenden und umkehren!
Sofort meldete sich eine zweite Stimme: Altes Hasenherz, willst du die Leute einfach ihrem Schicksal überlassen?!
Aber das hab ich nicht verdient, protestierte er verzweifelt, ich hab es nicht verdient, so was sehen zu müssen!
Doch es gab niemanden, der ihm die Entscheidung abnehmen würde. Außerdem wußte er, daß er als Mensch einfach nicht das Recht hatte, sich klammheimlich davonzustehlen, also fuhr er weiter, immer langsamer werdend und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, das sich unaufhörlich verstärkte, je näher er dem Ende der Kurve kam.
2
Der Alfa Romeo war frontal gegen den Laster geknallt, der quer am Ausgang der Kurve stand und die gesamte Straße versperrte. Während jedoch aus der Motorhaube des Wagens meterhohe Flammen schlugen, rangierte der Laster bereits und versuchte zu drehen, um wieder in Fahrtrichtung auf die Straße zu kommen. Ihm hatte der Unfall nicht das Geringste anhaben können, das war wohl auch nicht die Frage, weil es sich ganz einfach am Kräfteverhältnis festmachen ließ. Aber was, um alles in Welt, suchte ein Laster hier? Zwar fuhren ab und an Lieferwagen auf dieser Strecke, um die Läden der Dörfer zu versorgen, allerdings nur am Tage und sie waren höchstens halb so groß wie dieses Ungetüm. Es gab noch mehr Ungereimtheiten, die Henry ins Auge stachen. Wo stammten die vielen Leute her, die die Straße bevölkerten? Niemand schien verletzt zu sein oder brach in Panik aus, alles lief irgendwie geordnet ab. Während ein Teil der Leute den Flammen mit Feuerlöschern zu Leibe rückte, bearbeiteten die anderen die Kofferraumklappe mit großen Brecheisen. Etwas abseits, gar nicht weit, vielleicht sieben, acht Meter von ihm selbst entfernt, entdeckte Henry noch jemanden, der halb mit dem Rücken zu ihm stand und in einen Walkie-Talkie hineinsprach.
Henry stoppte und schaltete gleichzeitig die Scheinwerfer aus, ohne daß er erklären konnte, warum er das getan hatte. Es war wie ein Reflex, vielleicht wollte er niemanden irritieren, vielleicht war er nur zufällig an den Schalter gestoßen, später konnte er es beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen.
Vorn gelang es ihnen, den Kofferraum zu knacken, aus dem sie mehrere große Taschen herauszogen, als plötzlich eine der hinteren Türen des Alfa Romeos aufgestoßen wurde. Jemand kullerte auf die Straße, hustete und spuckte sich fast die Lunge aus dem Leib, schaffte es trotzdem irgendwie, auf die Beine zu kommen und über die Straße in Richtung Wald zu laufen. Die anderen ließen sofort die Taschen fallen und hatten ihn eingefangen, ehe er zwischen den Bäumen verschwinden konnte. Sie zerrten ihn zurück auf den Asphalt, zwangen ihn in die Knie und drückten ihm die Arme nach hinten, während einer aus der Runde vortrat und ihm etwas an den Kopf hielt. Deutlich hörte Henry das Knallen, drei-, viermal, kurz hintereinander, trocken und kompromißlos. Langsam, fast im Zeitlupentempo kippte der Knieende seitwärts auf die Straße.
Henry rührte sich nicht.
Sie schleiften den Körper zum Auto zurück, warfen ihn in die Flammen und kehrten zu ihren Taschen zurück, als wäre nichts geschehen. Der Mann mit dem Walkie-Talkie redete in der Zwischenzeit ununterbrochen in seinen Apparat hinein, sah ständig in den Himmel hinein und drehte sich dabei allmählich um die eigene Achse. Henry, der noch immer reglos hinter seinem Lenkrad saß, konnte jede einzelne Phase seiner Entdeckung miterleben, ohne etwas dagegen tun zu können. Langsam senkte sich der Blick des anderen und traf genau in seine Augen. Überdeutlich nahm Henry im Widerschein des Feuers das Gesicht wahr, während sein Hirn wie eine Kopiermaschine ein Abbild davon zeichnete, wo es sich unauslöschlich einprägte. Die Krater und Erhebungen, mit denen die Gesichtshaut übersät war und von großen, schlecht verheilten Akne- oder Pockennarben herrühren mochten, die Hakennase, die wie ein Wahrzeichen aus dem Trümmerfeld hervorstach und die hellen Stoppelhaare auf dem Kopf, die sich dem Nachthimmel entgegenreckten.
Die Überraschung im Gesicht des Pockennarbigen wich einem Erstaunen, das sich in Bestürzung verwandelte. Hastig drehte er sich um und brüllte zu seinen Leuten hinüber....